Mittwoch, 11. Januar 2012

Idas Keks

 

Ein tiefer Seufzer entsprang Idas Kehle und zufrieden über die im gesamten Körper prickelnde Entspannung schloss sie die Augen, die Welt um sich herum nicht mehr beachtend. Die funkelnden Punkte, die zusammen mit ihr im Busch kauernden, bemerkte sie erst, als die Katze ein begrüßendes Miau erklingen ließ.
„Dir hat man auch keine Manieren beigebracht, oder?“, fragte Ida völlig gelassen. Zulange hatte sie auf diesen Moment warten müssen, um sich jetzt ablenken zu lassen.
„Miau“, sprach die Katze, doch entschuldigend klang das nicht.
Ida verleierte ihre Augen; gab es denn keine Mäuse mehr, mit denen man spielen konnte? „Nun gut, womit kann ich behilflich sein, Eure Hoheit?“
Keine Antwort folgte, nur weitere Sekunden ruhigen Blickes auf Idas nackten Allerwertesten, der sich glänzend präsentierte.
„Das geht so wirklich nicht“, schnaubte Ida und zog umständlich im Schutz des Unterholzes ihre Hose hoch. „Wehe dir, es ist nichts Spannendes.“
Die Vierpfote schnurrte zufrieden, drehte sich um und verschwand. Worte waren wahrlich nicht ihre Stärke.
Die kleine Reisegruppe konnte warten, da war sich Ida sicher, und neugierig folgte sie der grauen Katze auf Händen und Füßen ins Dickicht des Waldes.
Wie mochte dieser wohl aussehen nach all den Jahren, in denen sie ihm fern geblieben war? Viel war ihr nicht in Erinnerung geblieben: kleine Bäume, große Bäume, hier und da ein Busch. Irgendwo musste es noch die kleine Quelle geben, an der Ida mit ihren Kindheitsfreunden beinahe täglich gespielt hatte. Nie hatten sie diesen Ort aufgeben wollen, und dann, erinnerte sie sich, endete alles ohne Widerworte: Irgendein Mann von außerhalb, wohl ein verwirrter Wissenschaftler, verschwand spurlos im undurchdringlichen Dickicht, die Polizei führte ihre üblichen Untersuchungen durch ohne etwas zu finden, und folgend wurde so viel über Wölfe, Bären und dergleichen spekuliert, dass die Eltern letzten Endes den Wald zum Sperrgebiet erklärten.
„Miau.“ Einige Meter weiter vorne hatte die Katze den beengenden Blättertunnel verlassen, der Ida noch eifrig Arme und Beine zerkratzte.
Gehe nicht in das Licht, hauchte eine Stimme in ihrem Kopf, die sie grimmig ignorierte. Nach all den Dornen, Stacheln und einer kleinen Spinne wollte sie unbedingt wissen, was auf sie wartete.
Es war ein Flecken Raum, ausgelegt mit samtig weichen Moos, umgeben von alten, knochigen Eichen, die sich ehrerbietig zu Boden neigten. Auch die Katze, sonst niemandem Untertan, senkte ihren Kopf hernieder. Als einziger in dieser illustren Runde stand Ida aufrecht, streckte ihre Arme weit aus und missachtete völlig ihren Gegenüber, den sie nur beiläufig als alte Turmuhr identifiziert hatte.
„Wolltest du mir diese Waldoase zeigen?“, fragte Ida fröhlich und stolzierte herum, auf ein zustimmendes Miauen wartend. Dieses ließ die Katze jedoch nicht ertönen und blickte fordernd Richtung Uhr.
„Die Uhr also?“ Ida nickte ernst. Lief einen Schritt vor, zweie zurück, formte mit den Fingern ein Passepartout und schnalzte mit der Zunge. Damit hatte sie ihren Entschluss gefasst. „Was bist du nur für eine sinnlose Uhr?“, schimpfte sie in luftige Höhen, streckte ihren Kopf höher und höher und fiel schließlich rücklings ins Moos.
Empört sprang die Katze auf und kratzte Idas Bein, doch war sie nicht umzustimmen: „Sie ist rostig, funktionsuntüchtig und steht im Wald, wo niemand sie sehen kann. Ein dummes Teil.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Zwei Mal noch versuchte das Kätzchen sie, diesmal etwas zärtlicher, anzustupsen, doch Idas einzige Reaktion war ein miesgelauntes „Nein, ich bocke jetzt.“
Den muskelbepackten Hünen, der sich von hinten herangeschlichen hatte, bemerkte sie so nicht. Dieser hatte sich viel zu lange nur von den Früchten des Waldes ernährt und Zwiegespräche mit der grauen Katze gehalten, als dass er jetzt auf die Schnelle eine Möglichkeiten finden könnte, Ida anzusprechen. Und so lief er still an ihr vorbei, kniete sich zu Füßen der Turmuhr und betrachtete sie ein weiteres Mal staunend. Karmesinrote Mauersteine, jeder ein unförmiger Fels doch stets passgenau, trugen sich ohne sichtbare Fugen bis hoch hinauf in den Himmel. Oben auf, jeden Wipfel überragend, thronte das matt schimmernde Ziffernblatt, zwar angetrübt von all den Jahren, doch weitsichtig wie eh und je. In seiner Mitte hingen die zwei Zeiger, Hauptkritikpunkt Idas, rostig und starr. Es war schlicht nicht an der Zeit, ihren zyklischen Tanz aufzuführen.
Eines jüngeren Tages hatte er Meter für Meter den Turm erglommen und hinter dem Ziffernblatt eine beinahe verblasste Inschrift entdeckt, deren Dechiffrierung Wochen und all seine Kenntnisse altertümlicher Sprachen beansprucht hatte. Dank diesem Wissen besaß er nun die Berechtigung, Ida nach einiger Zeit des Wortesuchens zu antworten: „Nein, du irrst. Diese Uhr, älter als du dir vorstellen kannst, erfüllt ihren wohldefinierten Zweck.“
Ob Katzen neuerdings reden können, fragte sich Ida umherschauend und entdeckte den fremden Rücken. „Was bist du?“, fragte sie zu erstaunt, um wild schreiend und armewedelnd zu  flüchten.
„Ich?“ Der Mann hievte sich auf die Beine und präsentierte Ida sein breites Kreuz. „Ich bin“, rief er lautstark und zog dabei einen riesigen Hammer aus seinem Gürtelholster, den er gen Himmel reckte, „Geologe!“
„Ui“, stieß Ida mit halboffenem Mund aus. „Du bist also auf der Suche nach alten Knochen?“
Missmutig drehte sich der Geologe um. „Nein, mein Kind, solchen Zeitvertreib pflegen die Archäologen. Wir Geologen untersuchen den Aufbau der Erde, dieses wunderbaren Konstruktes, das unserem Leben Boden gibt.“
Alt sah er aus, wurde Ida nun bewusst, als sie die Falten in seinem Gesicht sah, die mit seinem gestählten Oberkörper kontrastierten. Auch seine Hose war abgegriffen, voller Löcher und Flicken, Schuhe trug er gar nicht. Da fiel der Groschen!
„Bist du etwa ..“
„Ja, genau. Und nun folge mir, ich möchte dir etwas zeigen.“
Das ging nun doch etwas zu schnell. „Ich müsste aber wieder zurück zu meiner Gruppe“, erklärte Ida ausweichend und hielt Ausschau nach dem kleinen Loch in der Blätterwand, welches sie an diesen Ort geführt hatte.
Da lachte der Geologe laut auf. „Denkst du wirklich, ich würde seit zehn Jahren in diesem Wald leben, wenn der Ausgang so leicht zu finden wäre?“
Und wirklich war der Blättertunnel zu Idas Entsetzen spurlos verschwunden. Auch die gebeugten Eichen standen nicht mehr an ihren Plätzen und das Moos war vertrocknet. Nur die Turmuhr war starr verblieben und schien spöttisch auf Ida herabzublicken.
„Nun komm schon!“, rief der Geologe von weitem, und die Katze, seine treue Begleiterin, fügte erklärend hinzu: „Miau.“
Heulen half hier nichts, also rannte Ida hinterher. Der Geologe würde ihr ganz bestimmt helfen, aus dem Wald herauszukommen.
„Sieh dich einmal gut um“, sprach er, während sie verschlungenen Pfaden folgten, die sich ohne Beginn und Ziel an diversen Gewächsen vorbei wanden. „Nichts erinnert an die Zeit. Selbst wenn keine Baumkronen den Weg beschatten würden, würdest du nur eine dichte, graue Wolkendecke sehen. Sonnenschein gibt es hier nicht, weder völlige Dunkelheit noch schmerzende Helle. Die Zeit läuft hier anders, wenn überhaupt.“
„Kein Wunder, wenn die einzige Uhr weit und breit kaputt ist“, fügte Ida leise hinzu.
„Es gibt Dinge in dieser Welt“, sprach er einfach weiter, „die keiner Zeit bedürfen, neben ihr unabhängig existieren und nie altern.“ Ein beinahe fanatisches Glänzen hatte sich über seine Auge gelegt, doch Ida hörte gar nicht zu und versuchte unentwegt, die Katze zu streicheln. „Nun gut“, seufzte der Geologe und wies den Weg hinab, „der nächste Ort dürfte dir sicherlich mehr imponieren.“
Gespannt rannte Ida ein paar Schritte weiter und blieb wie angewurzelt unter einem pflanzlichen Torbogen stehen. Vor ihr breitete sich eine riesige Lichtung so groß wie ihr alter Schulhof aus, auf der sich die sonderbarsten Blümchen versammelten, die sie je gesehen hatte. Die Laubblätter hatten sich zu einem schmalen, glitzernden Ring geschlossen und führten rings um die Blüte, die einer Kugel glich und in verschiedensten Farben schimmerte, als wäre sie ein kleiner Planet. Und all diese abertausenden Blumen streckten ihren Kopf zur Mitte der Lichtung, in der ein haushohes Konstrukt mit Fäden verbundener, schmaler Holzplättchen dem Boden entwuchs.
Leise lächelnd stand der Geologe neben Ida und betrachtete den kleinen Speichelfaden, der aus ihrem offenen Mund rann. „Habe ich zu viel versprochen, junge Dame?“
„Was ist das für ein Teil?“, fragte sie, ohne den Kopf von all der Pracht abzuwenden.
„Das wirst du gleich selbst sehen, dort hinten nähert sich eine kleine Windböe, um den Zauber vorzuführen.“
Die Verwirbelungen der Luft mit all den Samen und Pollen rauschten heran und legten sich auf das Holz, wiegten es erst schwach hin und her, schwangen es dann vor und zurück und ließen es schließlich sanft aneinander schlagen. Einzelne Töne erklangen, verbanden sich zu einer seichten Melodie und schwellten an zu einer monumentalen Musik, die alle Blumen und auch Ida solange im Takt wippen ließ, bis sie entschwand.
Mit leuchtenden Augen sah sie den Geologen an. „Hast du dieses Windspiel gebaut, Geo..“ Sie stutzte. „Wie heißt du überhaupt?“
„Nach meinem Namen fragst du?“ Der Geologe schaute verwundert. „Die Katze hat mich nie danach gefragt, also ist er hier nicht wichtig.“
„Das geht nicht“, beschwerte sich Ida. „Ich muss dich ansprechen können, wenn ich möchte.“
Er kratzte sich ausgiebig am Kopf, konnte sich jedoch nicht erinnern. „Mir mag beim besten Willen kein Name mehr einfallen.“
„Alles klar“, ließ Ida frohgemut verlauten, „dann nenne ich dich einfach Opa.“
„Nein“, wehrte sich der Geologe erstaunt, „so alt mag ich noch nicht sein. Aber wenn es dir so wichtig ist, mich bezeichnen zu können, so heiße ich ab jetzt Opal.“
Ein wenig seltsam fand Ida diesen Namen schon, doch nickte sie zufrieden. „Also dann, Opal, hast du dieses Wunderwerk gebastelt?“
„Nein, natürlich nicht. Dieses Windspiel entstammt derselben Zeit wie die Uhr, die du vorhin gesehen hast, und es zeigt dir all die Orte, die du nie besuchen musst.
„Verstehst du, was er mir erklären will?“, fragte Ida die Katze, die miauend um ihre Beine strich und weitere Streicheleinheiten einforderte.
Der Geologe seufzte ein weiteres Mal. „Komm mit, und du wirst es verstehen.“ Mit Leichtigkeit hob er Ida samt Katze auf seine Schulter und rannte los. An Eschen, Kiefern, Pappeln vorbei, in ein Tal hinab, einen Berg wieder hinauf, durch eine lange Schlucht und immer weiter und weiter und weiter. Dann setzte er die beiden keuchend ab.
„Fürwahr eine beachtliche Ausdauer“, konstatierte Ida, „nur was zeigt uns das?“
„So lange wir auch laufen“, keuchte der Geologe, „werden wir nie ein Ende des Waldes erreichen. Und doch ist der Wald nicht größer als ein gut gepflegter Mischwald mittlerer Breiten. Schau.“
Gemeinsam liefen sie den Weg einige Meter weiter entlang, und nach der nächsten Kurve standen sie wieder auf der Lichtung mit all den schillernden Planetenblumen.
„Ah, das versteh ich“, rief Ida fröhlich aus und versetzte damit Katze und Geologen gleichermaßen in Erstaunen. „Das ist wie bei dem Labyrinthspiel, das ich mit meinem Bruder Ild gespielt habe.“
Der Geologe lächelte zustimmend. „Wirklich wichtige Dinge hängen sich nicht an einem einzigen Ort auf, sie leben dort, wo du bist, von mir aus auch in deinem Herzen.“
„Miau“, stimmte die Katze zu und hüpfte in einen Holunderbusch, der sie völlig verschwinden ließ.
„Das dürfte funktionieren“, rief ihr der Geologe hinterher und nahm Ida an der Hand, zog sie wieder an all den zufälligen Bäumen vorbei. „Du hast sie gehört, hinterher.“
„Opal, wohin ..“
„Das ist die falsche Frage, wir befinden uns im Wald.“
„Aber was ..“
„Genau das hier.“ Beinahe stolz präsentierte der Geologe ein kleines, mit dünnen Linien verziertes Kästchen, das einfach so im Gras lag. Nicht groß, nicht klingend, einfach nur da.
Ida hockte sich davor, klopfte an und versuchte vergebens, die verschlossene Schachtel zu öffnen. „Ist das des Rätsels Lösung?“, fragte sie die Katze, die sich behäbig neben ihr nieder gelassen hatte. Ein Miau war wie immer die Antwort, dann schlief sie ein.
„Ja, genau“, erklang die tiefe Stimme des Geologen. „Wenn du den Wald verlassen willst, fasse sie in Worte.“
„Nun, das ist nicht schwer. Diese Schatulle enthält etwas, doch ich kann nicht wissen, was. Also ist klar, dass man im Leben rein gar nichts wissen muss, um glücklich zu sein.“
Dem Geologen kamen beinahe die Tränen, wie konnte sie nur so falsch liegen? „Du kannst doch nicht diese altertümlichen Konstrukte der Zeit und des Raumes in einen Topf werfen mit der Urbestimmung des Menschen, Wissen anzusammeln. Mädchen!“
Ida schreckte zurück, in solch einer Gemütsverfassung hatte sie ihn bisher nicht erlebt. „Ich soll also wissen?“
Der Geologe nickte bedeutungsschwer. „Hier, nimm meinen Hammer. Hole aus. Und schnapp dir das, nach dem dein Geist verlangt.“
Während sich Ida breitbeinig über dem Kasten positionierte, kam der Geologe nicht umhin, noch etwas Trivialinformation einfließen zu lassen: „Der Name Geologie setzt sich zusammen aus Geos, der Erde, und Logos, dem Verstehen. Es gibt also nichts Wichtigeres, als zu wissen, was die Welt zusammenhält.“
Idas strenger Blick ließ ihn verstummen. Für den finalen Schlag brauchte es völlige Konzentration, Kraft in den Armen und einen lauten Schrei.
„Wuaaaah!“
Des Hammers Kopf schnellte als eiserner Blitz herab, teilte die Luft mit einem leisen Knistern und schlug mit mädchenhafter Gewalt auf den Deckel – und bis auf ein leises Pling passierte vorerst nichts.
Eine lange Sekunde lang schauten Ida und der Geologe verblüfft auf das hölzerne Konstrukt, dann erstrahlte es golden und zersplitterte mit einem hohlen Krachen in Millionen winzig kleine Teilchen, die wie Funken einer Wunderkerze verglühten.
Vor Schrecken hatte sich Ida auf dem Boden zusammengekauert und blinzelte nun durch ihre Finger hindurch. Von der Schatulle war nichts mehr übrig, nur ihr Inhalt bot sich stolz dar: ein Haufen frisch gebackener, noch warmer Kekse.
Ida runzelte die Stirn. In der Schatulle lagen also Kekse. Sie musste schon tagelang dort gelegen haben, aber waren immer noch frisch. Sollte das jetzt ein großartiges Wissen sein, welches ihr Leben von Grund auf verändern sollte? Knusprige Kekse?
Vom lauten Lachen des Geologen wurde Ida aus ihren Gedanken gerissen. „Diese Katze! Woher nimmt sie bloß immer ihre wunderbaren Ideen?“
Waren sie also doch etwas Besonderes? Neugierig nahm sich Ida einen Keks und betrachtete ihn genauer. Rund, krümelig, Schokoladeneinschlüsse; das ganz normale Erscheinungsbild also. „Opal, was findest du daran wunderbar? Ich verstehe überhaupt nicht, wie mir das nützlich ist."
Immer noch lachend beugte sich der Geologe zu Boden und packte das restliche Backwerk in seinen Proviantbeutel. „So ist das mit dem Wissen; selten weiß man von Anfang an, wozu es gut sein wird.“
Dann nickte er ihr zu und ging ohne ein weiteres Wort zielstrebig in eine Richtung los, die er völlig willkürlich gewählt hatte.
„Warte doch, wohin bringst du mich?“
„Das kann ich nicht wissen. Ich bin mir aber sicher, dass du in ein, zwei Minuten verstanden haben wirst. Dann wird dein Ausgang uns gefunden haben.“
Ida hastete hinterher, seine langen Beine waren wirklich ungerecht. „Und was ist mit dir, kommst du mit?“
Wieder lachte der Geologe, auch wenn es ihm nun schwer fiel. „Kleine, ich bin schon so lange hier und noch immer gibt es Unmengen für mich zu lernen. Außerdem muss sich doch jemand um die Katze kümmern.“
Ida sah sich hektisch um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. „Wo ist sie denn? Hat sie uns verloren?“
„Nein“, beruhigte sie der Geologe, „sie ist älter als der Wald. Sicherlich sitzt sie schon am Tunnel, um dich zu geleiten.“
„Der Tunnel war doch aber weg?“, keuchte Ida verwirrt und sprang galant über einen Busch, der vor ihr aus dem Boden schoss.
Auch dem Geologen wuchsen nun Äste in den Weg, gerade so konnte er sich noch ducken. „Du musst nur verstehen, dann wirst du gehen dürfen.“
„Und wieso laufen die Pflanzen Amok?“
„Jetzt ist nicht die Zeit, dir das zu erklären“, rief er beim Wurzelausweichen. „Höre einfach auf dein Bauchgefühl. Und nun entschuldige bitte.“
„Was soll ich denn ..“
Mit seiner linken Pranke packte der Geologe Ida am Oberarm, mit der rechten zwischen den Beinen und schmiss sie mit aller verbliebener Kraft durch die Hecke, die sich als letztes Bollwerk vor ihnen aufgebaut hatte.
Ewas unsanft landete Ida auf dem weichen Moosbett nicht unweit der Turmuhr. Der Tumult hatte sich gelegt, aber ihr Geologe war nun auch unerreichbar.
„Und nun?“ Wackelig stemmte sie sich auf die Beine und durchlöcherte die Katze mit ihrem fragendsten Blick.
„Miau“, antwortete diese wie üblich.
„Eine wirklich große Hilfe bist du“, beschwerte sich Ida und stand ratlos da. Sie musste verstehen. Einfach nur verstehen. Verstehen um zu verstehen. Und dann knurrte ihr Magen, laut und dringlich.
Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht und endlich konnten die Zeiger einen nächsten Schlag tun.
„Kätzchen, nun weiß ich Bescheid“, erläuterte sie selbstzufrieden, kramte den Keks aus ihrer Tasche und biss grinsend ab.

Mittwoch, 4. Januar 2012

der koerzive Raum


Mit Beginn des Weges war zugleich auch die Welt entstanden, durch die mich dieser führte, und so lief ich munter weiter drauf los, ohne zu wissen, woher und wohin.
Die bisherige Reise indes musste eine lange, außerordentlich beschwerliche gewesen sein. Mehr und mehr Figuren saßen entmutigt am Wegesrand und gaben sich damit zufrieden, lediglich die seltsam anmutende Vegetation zu betrachten: schwarze Bäume, deren weiße Blätter den Boden berührten, um den hoch in den Himmel ragenden Wurzeln einen Halt zu geben, das Firmament zu kratzen.
Einmal auch tauchte ein erschöpfter Wicht direkt vor meinen Füßen auf – beinahe betreten hätte ich ihn! Freundlich, so wie ich bin, fragte ich, ob ich helfen könne, da reichte er mir eine Feder und verlangte völlig ernst, ohne den geringsten Schalk in der Stimme, ohne auch nur etwas an seinem Werk zu zweifeln, ich solle ihm helfen, alle Zahlen dieser Welt aufzuschreiben. Bis zur Dreihundertvierzehntausendeinhundertneunundfünfzig sei er schon gekommen und immerhin wären wir zu zweit sicherlich doppelt so schnell, hätte ich mich erst einmal eingewöhnt. Ich lehnte mit einem Verweis auf mein kommendes Leben, welches ich nicht aufzugeben bereit war, ab und lief schnell weiter.
Nein, mit solch Verschrobenen wollte ich mich nicht abgeben. Viel interessanter erschien mir dagegen eine gigantische, schmiedeeiserne Tür, die sich in einiger Entfernung auf dem Weg aufbaute und diesen auch für viele andere versperrte.
Angekommen sagte man mir, ich müsse klopfen, und würde ich das daraufhin ausgesprochene Rätsel lösen, so wäre mir der Eintritt sicher. Also hieb ich ein auf die Pforte, das Rätsel zu erlangen, und heraus trat ein Wesen, völlig in schwarzes Braun gemantelt, sah mich, so dachte ich jedenfalls, an, und sprach behäbig mit einem durchaus lustigen Akzent:
„Sei dir gesagt: Der Barbier
rasiert genau die Männer hier,
die lieber faulen, dösen, ruhn,
nicht willens sind, dies selbst zu tun.
Diesen kühlen, scharfen Schaber
zum Scheren meiner Haare aber
bediene ich nie selbst an mir.
Wieso bin ich der Barbier?“
Die Umstehenden, schon spannend gelauscht habend, welche Nuss dem Neuen vorgeworfen würde, stöhnten auf und hielten sich vor Schmerz die Zähne.
„Wie soll dies angehen?“, war zu hören. „Rasiert er sich selbst, so ist er zu faul dazu.“
„Ist er dies aber“, schrie ein anderer, „so rasiert er sich im Auftrag seines Amtes!“
Ein Dritter taumelte vorbei, meinte „Er rasiert sich doch stets, auch wenn er dies nicht tut“, und sprang von der Klippe.
Ich nun trat an die Kapuze heran, ganz nah, zum eigenen Glück näher als nötig, und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist natürlich weiblich, meine Hübsche, und – wenn ich dies hinzufügen darf – liebend gern würde ich mit dir ein Stück des Weges gehen.“
Daraufhin reichte sie mir die Hand und gewährte mir unter den ungläubigen Blicken all jener Gescheiterten Einlass in das Land jenseits des Tores. Dort auch nahm sie ihre Kutte ab und zeigte mir ihr – genau hierauf hatte ich spekuliert – liebreizendes Gesicht, tat einen Knicks und stellte sich vor: „Mein Name ist..“
„..Lambda“, vervollständigte ich ihren Satz, ohne zu wissen, woher mir dies bekannt war. Ihr schien dies nur natürlich zu sein und lächelnd liefen wir nebeneinander her, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Bis ein Schrei aus ihrer Kehle drang: „Da!“
„Wo?“
„Eine Katze Gruppen, in Deckung!“
Laut lachte ich auf, ihre Panik nicht verstehend, und bückte mich, ein Fellknäuel an mich zu nehmen. „Was bist du für eine Frau, Angst vor Katzen zu haben?“
Meine Freundin hatte sich von mir entfernt und rief mir zu: „Nein, du Idiot! Das sind Gruppen, gemeingefährliche Gruppen!“ Und schon biss mich solch ein Vieh in den Zeh. Dies tat weh, wirklich weh, und so schnell wie noch nie rannte ich hinaus aus diesem Gebiet, welches schleunigst abgeschlossen werden sollte. Was war das nur für eine Welt, durch die sie mich führte?
Genau das wollte ich sie fragen, doch ehe ich mich versah, hatte sie schon die Arme um mich geschlungen und presste sich fest an mich. „Dieser Ort ist gefährlich, du hättest sterben können!“ Ich hatte diese Bemerkung schon mit einem Scherz abtun wollen, merkte aber, dass sie es ernst meinte. Sie blieb nicht nur bei mir, weil sie mich mochte, sondern auch, weil sie Angst hatte – um mich.
Vielleicht aber auch nicht, denn schon hatte sie sich wieder von mir gelöst und kam nicht umhin, mich zu tadeln. „Weißt du denn nicht, dass Gruppen nur wegen ihrer Kleinheit so süß aussehen, im Grunde ihres Herzens jedoch böse sind?“
„Nein, woher auch? Bei mir zu hause werden diese Tiere Katzen genannt und sind verschmust und meistens zutraulich.“
Da musste sie lachen. „Eine Katze ist doch eine Ansammlung von Gegenständen.“ Sie kramte in ihrer Tasche und holte ein paar Steinchen heraus. „Hier, das zum Beispiel ist eine Katze Steine. Und sag mir nicht, dass in deiner Welt ein Stein etwa Maus heißt. Das wäre lächerlich.“
Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und ihr lieber einen Kuss zu geben. Nach bestandenen Gefahren sollte dieser süßer schmecken als zu anderen Zeiten. Unsere Lippen berührten sich, ich spürte ihre zarten, warmen Lippen, zog sie an mich, vergrub meine Hände in ihren Haaren, stöhnte auf, machte mich an ihrem Oberteil zu schaffen und merkte schließlich, wie sie alles nur stumm über sich ergehen ließ und still in die Ferne starrte. Besorgt ließ ich sie los.
„Lambda, was fehlt dir?“
Als sie antwortete, war ihre Stimme leer. „Weißt du eigentlich, wo du bist?“
„Ich.. In deiner Nähe, mehr zählt nicht.“
Sie schaute mich traurig an, schüttelte den Kopf. „Diese Ort ist nicht real. Er entstand aus Gedanken, die deine Welt ungenügend fanden, und ist nun ein Sammelplatz für alle, die dort keinen Platz mehr finden.“
Ich konnte nicht verstehen, was sie mir sagte, sah ich sie doch plastisch vor mir. „Du aber existierst doch, Lambda?“
„Ich? Ich kenne mich selbst nicht! Das hier“, sie zeigte an sich hinab, „ist ein Abbild derer, die du drüben geliebt hast. Ich bin bloß dein Halt für den Übergang.“
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. „Träume ich?“
Sie schaute mich an – und grinste schelmisch. „Nein, diesmal lautet die Lösung: ich habe dir einen Streich gespielt!“ Als wäre nichts gewesen, nahm sie mich an der Hand und zog mich vorwärts. „Komm, der koerzive Raum erwartet uns.“
Diese Frau zu verstehen gestaltete sich beinahe so schwierig wie ihr seltsames Vokabular, und schon wollte ich nachfragen, als sie meinen Blick richtig deutete.
„Du würdest es nicht verstehen, erklärte ich es dir. Schau ihn dir einfach an, er beginnt hinter dem nächsten Hügel.“
Ihr Raum war sicherlich kein schlichtes Zimmer, darum setzte ich einiges auf dieses Konstrukt, das hinter dieser sandigen Schräge, auf der kleine Kugeln saßen und eifrig Kreise malten, auf mich warten sollte. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Eine Stadt, gebaut aus Stein, Stahl, Kohle und allem, was sonst noch zur Verfügung gestanden haben musste, ergoss sich zu meinen Füßen hinaus zum Horizont, erfüllte mein gesamtes Blickfeld mit schlichten Reihenhäusern, vereinzelten Einkaufszentren, gigantischen Wolkenkratzern, mehrspurigen Autobahnen und kleinen Schrebergärten. Eine Stadt ohne Grenzen abseits dieses Berges, eine Stadt, die bis in die Unendlichkeit reichte, eine Stadt, die wahrhaft eine solche war.
Ohne meinen Blick abzuwenden richtete ich das Wort an Lambda: „Das verstehst du also unter einem Raum?“
Ich hörte sie förmlich grinsen. „Davon bist du schon beeindruckt? Es gibt noch viel mehr Räume, das ist bloß der koerzive.“
„Und was erwartet mich da?“ Ich sah sie an, und wieder war da dieser starre Blick, der die Ferne taxierte.
„Es wird dir gefallen.“ Lambda sprach leise, und es schien, als unterdrückte sie Tränen. „Ganz sicher wird es dir gefallen. Komm.“
Ich blieb stehen. Offensichtlich gefiel ihr der Gedanke nicht, den Raum zu betreten. Diese Angelegenheit musste geklärt werden. „Was wird geschehen, Lambda? Antworte mir.“
Flehend blickte sie mich an. „Stell bitte keine Fragen. Ich bin mir sicher, du wirst deinen Spaß haben. Spaß, ganz viel Spaß, ganz sicher.“ Nun liefen ihr doch die Tränen über ihre wunderschönen Wangen. „Ich bin doch dafür da, dich glücklich zu machen.“
Ich zog sie an mich heran und hielt sie ganz fest. Wir standen einfach nur da und langsam beruhigte sie sich. Als ihr leises Schluchzen verklangen war, flüsterte ich ihr ins Ohr: „Ich liebe dich. Und ich verspreche dir, dass nichts uns Trennen wird. Alles wird gut.“
Mit großen, geröteten Augen sah sie mich an und nickte. Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Dann rannte sie ohne ein weiteres Wort den Hang hinunter und ich ihr hinterher, obwohl ich mich vor dem unvermeidlichen Trubel, der dort herrschen musste, ängstigte. Überall Menschen in Eile und Hast, widerwärtige Gerüche an jeder Ecke und kleine Kinder, die plärren. Sicherlich auch einige Gruppen.
Um so mehr war ich überrascht, als wir mitten im Raum standen und ich die anderen begutachtete, die zu sehen waren. Frauen, Männer, Kinder, allesamt in Grau gekleidet, standen lediglich da, sprachen nicht, gingen nicht, atmeten nicht – und hielten sich kleine Geräte ans Ohr. Ihre Augen waren erloschen, ihre Haut fahl, ihr Haar schütter und stumpf. Und überall dieses kleine Gerät.
„Was ist hier los?“, fragte ich, nun endlich eine Antwort erhoffend. „Wieso sind all diese Leute so freudlos erstarrt?“
Lambda stand etwas abseits von mir und setzte einem jungen Mann den Hut auf, der vom Wind herunter geweht worden war. „Ganz im Gegenteil: Sie haben den Spaß ihres Lebens, nur sieht man es ihnen nicht an. Sie sind schlicht zu beschäftigt.“ Dann gab sie dem Mann einen langen Kuss auf den Mund, und schon wollte ich eifersüchtig einschreiten, da sprach sie weiter: „Haben sie einmal begonnen, so vergessen sie alles, was ihnen einst wichtig gewesen ist.“
Ich hatte das Gefühl, Lambda in den Arm nehmen zu müssen, doch sie schüttelte mich unwirsch ab.
„Diese kleinen Geräte sind die Körper.“ Sie hielt kurz inne und ließ das Wort in der Stille des Raumes nachhallen. „Sie senden Punkt für Punkt eine völlig leere, grenzenlose Welt in deinen Kopf, erst kleine Strecken zum Eingewöhnen, dann Kreise und später Kugeln gigantischen Durchmessers. Und dann ist es an dir.“ Sie redete jetzt nicht mehr zu mir, blickte wieder in die Ferne. „Meine Aufgabe ist es, Suchende wie dich zu geleiten.“
„Ich hab diesen Ort niemals gesucht, Lambda! Diese Körper interessieren mich nicht, lass uns einfach wieder gehen.“
Wieder diese verzweifelte Lächeln, als sie an mich heran trat und mir einen Körper in die Hand drückte. „Sobald du es am eigenen Leib erfahren hast, wirst du sie gesucht haben, es ist schon immer so gewesen.“
Ich betrachtete den Körper genauer, der solche Macht besitzen sollte. Er sah aus wie ein kleines Funkgerät, zum Datenaustausch bestens geeignet, aber aus billigem Plastik. „Wenn ich wieder da bin, gehen wir ein Eis essen.“ Ein letztes Lächeln noch, dann hielt ich ihn an meinen Kopf.
Sofort verklangen alle Empfindungen, die mein eigener Körper lieferte, und nur noch die neue, reine Schwärze blieb.
Dann leuchtete ein klitzekleiner Lichtpunkt auf, in grellem Weiß, und als ich dachte, er solle doch bitte braun werden, so wurde es dies. Gleich darauf zeigten sich zwei neue, und auch diese färbte ich durch einen einfach Gedanken in sattes Braun. Nun leuchteten in schneller Reihenfolge weitere Punkte auf, die sich auf einem Kreis anordneten, und ich ließ sie wachsen, in Höhe und Breite, bis ich einen Klecks Kaffee vor mir sah, der kurz darauf von einer eigens erstellten Tasse umgeben war.
Dann sah ich den Kaffee vibrieren, stärker und stärker, bis die Tasse zersprang.
Ich öffnete die Augen, sah hinauf in den blauen Himmel und holte tief Luft. Lambda hatte mich zurück geholt. „Sag mir: Was war das?“
Lambdas Gesicht schob sich über mich. „Stell es dir vor wie eine umgekehrte Karte: Der Körper liefert dir ein unbegrenztes Stück Papier und alles, was du denkst, wird an dieser Stelle entstehen.“
Hätte ich es nicht kurz zuvor selbst erlebt, hätte ich kein Wort geglaubt. So aber wollte ich mich davon überzeugen, dass mir wirklich keine Grenzen gesetzt waren und hielt den Körper an meine Schläfe.
Alles war wieder schwarz, der Kaffee verschwunden, also fing ich von vorne an. Die Tasse gelang mir schnell, also nächstes erzeugte ich einen Tisch. Größeres schwebte mir vor, also baute ich dem Tisch ein eigenes Haus und ringsherum erschuf ich einen wunderschönen Park samt Getier und wanderndem Pärchen.
Und dann traf mich aus heiterem Himmel der Schlag und keuchend lag auf dem Boden, Lambda schreiend über mir. „Was denkst du dir eigentlich, du riesiger Idiot! Wir sind im koerziven Raum!“
Ich lächelte sie an. „Was regst du dich denn auf, es ist doch alles in Ordnung.“
Sie schaute mich an, als hätte ich einen wirklich schlechten Witz gerissen und gab mir eine Ohrfeige. „Du verstehst es nicht, oder? Wenn du einmal anfängst, wirst du gezwungen, weiter zu machen. Immer weiter, und weiter, und weiter. Es ist eine Sucht. Man will Neues erschaffen, Schöneres, die Unendlichkeit erreichen.“
Nun flossen wieder ihre Tränen, also versuchte ich mit sanften Worten zu ihr vorzudringen. „Lambda.. Glaube mir.. Der Körper ist nicht böse. Er macht mich glücklich. Schau, ich erschaffe auch dir eine Welt!“ Dann hielt ich ihn wieder  an meinen Kopf.
Wieder diese Schwärze, die mein bisheriges Werk verschlungen hatte, doch macht ich mich unverdrossen an die Arbeit, und kurze Zeit später breitete sich eine strahlend grüne Wiese vor mir aus, überfüllt von Gänseblümchen, Schmetterlingen und Sonnenlicht. Am Rand gähnte noch Leere, doch diese sollte bald mit einer hübschen Holzhütte für mich und auch Lambda gefüllt werden.
Froh machte ich mich ans Werk, als die Erde unter mir begann zu beben und sich entzwei spaltete. Ich versuchte noch, Brücken zu schlagen, doch es war zu spät.
Als ich die Augen öffnete, sah ich Lambda wieder über mir sitzen und schreien. „Ich liebe dich?! Alles wird gut?!“ Sie prügelte flennend auf mich ein.
Alles was mir dazu einfiel, war: „Du hast meine Wiese zerstört, Lambda. Bitte lass mich gehen, sie wieder aufbauen.“
Sie riss die Augen auf. „Sei nicht so ein verdammter Idiot! Komm zu dir!“
Ich stieß sie von mir und hielt ihr den Mund zu, sodass sie nicht weiter schreien konnte. „Lambda“, knurrte ich, „ich habe mich entschieden. Versuche nicht weiter, mich aufzuhalten.“
Unter Schmerzen verzerrte sie das Gesicht, doch sie hatte verstanden und nickte. Ich ließ sie los und sie rückte von mir weg.
„Eines möchte ich zuvor jedoch noch wissen: Wieso bin ich hier?“
Lambda setzte sich auf und unterdrückte ihre Tränen so gut es ging. „Du hast es nicht herausgefunden?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Drüben, in deiner Welt, hattest du einen schweren Unfall und seitdem kann dein Geist nicht mehr über deinen eigenen Körper verfügen. Daher hat er sich hierher gerettet, wie all die anderen auch.“
Zufrieden nickte ich, wissend, dass doch alles einen Sinn hatte und ich genügend Beschäftigung für die Unendlichkeit besaß.
„Es war wirklich eine schöne Zeit mit dir. Danke, dass du bei mir warst, Lambda.“ Dann machte ich es mir auf einer Bank gemütlich, warf ihr noch einen letzten Blick zu, der ihre Trauer lindern sollte, und dann tauchte ich ein in die Welt des Körpers.

ohne Kassenzettel


Claudia ist vielleicht fünfzehn Jahre alt, von schlanker Figur und mit einer Hose bekleidet, die nicht, wie oft gesehen, hauteng anliegt, sondern ein wenig Luft lässt, schattige Falten wirft. Ein wahrer Blickfang auch ihre halbhohen, roten Stiefel, aber leider nicht in einem Alter, um für mich interessant zu sein. Als Geliebte zu jung, als Tochter zu entwachsen, vielleicht eine Schülerin, aber solche benötigen andere Werte, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Claudia, dieses Mädchen vor mir in der Schlange, dessen Namen mir naturgemäß nicht bekannt, sondern nur schlecht vermutet ist, bezahlt ihre Ware an der praktischen Kasse ohne Kassiererin und verlässt schnellen Schrittes den Markt. Werde ich sie wieder sehen? Ich glaube kaum, selbst wenn wir uns heute nicht schon zum zweiten Mal getroffen hätten. Eine andere Kasse wird ebenso frei, doch mich zieht es zu dem letzten Flecken, der mich noch mit ihr verbindet.
Claudia, was hat sie wohl gedacht in ihren letzten Minuten? Gedankenverloren ziehe ich meine Wunschwaren über das Band und zahle, da sehe ich den Kassenbon noch unberührt an der Maschine hängen. Frohlockend erkenne ich das Vermächtnis Claudias, schnappe es gierig und verstecke es in meiner Brieftasche. Noch ehe mich jemand aufhalten kann, verlasse ich eilig, mich immer wieder nach Verfolgern umblickend das Gebäude und atme durch.


Claudia hinterließ mir ein Mysterium, welches mich beinahe das Atmen vergessen macht. Meine zitternden Fingern umklammern dieses bedruckte Stück Papier, welches meinen ungläubigen Augen offenbart, dass sie lediglich eine Packung wohlbekannten Kaugummi für neunundneunzig Cent gekauft, jedoch mit ganzen einhundertachtzig Cent bezahlte hat. Offensichtlich wäre dies doch nicht nötig gewesen, gibt es doch keine 1,8-Euro-Münzen!
Claudia, entleertest du ohne Hintergedanken deine gesamte Börse, oder folgtest du einem nur dir bekannten Plan? Ein Tausch von Eincentstücken gegen Fünfziger? Ein kleiner Test der Zählmaschinerie? Eine wohl gehütete Besessenheit für Münzen, die durchs Innere eines metallenen Wesens geschlüpft sind und so herrlich duften? Wahrscheinlich etwas, das mir nicht einmal annähernd in den Sinn kommen mag.
Claudia, so hüpfst du mir durch meine Gedanken mit deiner nicht ganz so engen Hose, auf meinem Heimweg, für einige Zeit. Vielleicht sehen wir uns ja doch wieder, noch einige Male, an der Kasse. Ich werde warten.

~~~

Liebe Claudia,

ich kenne dein Gesicht nicht, doch besitze ich deinen Kassenzettel.
Erkennst du dich wieder in jenem hübschen Mädchen vom 13. Dezember, gegen halb vier? Nur ein Päckchen Maoam in deinem Beutel?
Wenn ja, dann melde dich bitte, ich bin hochauf interessiert.

Mit freundlichem Gruß,
Maximilian Isaac Rex

Dienstag, 3. Januar 2012

Prolog

Sei gegrüßt, Reisender!

Ich nenne mich Styx, und hier erscheint nun (so hoffe ich) nach und nach ein kleines Büchlein, welches ich in Funktion als Maximilian Issac Rex zu schreiben gewillt bin.

Umfassen soll es dereinst 7x7 kürzere Geschichten, um feinen Sand zu ergeben, dazwischen einige Kleinigkeiten, um bei Laune zu bleiben.

Nun denn! Sehen wir gemeinsam, was werden wird. :)