Mittwoch, 4. Januar 2012

der koerzive Raum


Mit Beginn des Weges war zugleich auch die Welt entstanden, durch die mich dieser führte, und so lief ich munter weiter drauf los, ohne zu wissen, woher und wohin.
Die bisherige Reise indes musste eine lange, außerordentlich beschwerliche gewesen sein. Mehr und mehr Figuren saßen entmutigt am Wegesrand und gaben sich damit zufrieden, lediglich die seltsam anmutende Vegetation zu betrachten: schwarze Bäume, deren weiße Blätter den Boden berührten, um den hoch in den Himmel ragenden Wurzeln einen Halt zu geben, das Firmament zu kratzen.
Einmal auch tauchte ein erschöpfter Wicht direkt vor meinen Füßen auf – beinahe betreten hätte ich ihn! Freundlich, so wie ich bin, fragte ich, ob ich helfen könne, da reichte er mir eine Feder und verlangte völlig ernst, ohne den geringsten Schalk in der Stimme, ohne auch nur etwas an seinem Werk zu zweifeln, ich solle ihm helfen, alle Zahlen dieser Welt aufzuschreiben. Bis zur Dreihundertvierzehntausendeinhundertneunundfünfzig sei er schon gekommen und immerhin wären wir zu zweit sicherlich doppelt so schnell, hätte ich mich erst einmal eingewöhnt. Ich lehnte mit einem Verweis auf mein kommendes Leben, welches ich nicht aufzugeben bereit war, ab und lief schnell weiter.
Nein, mit solch Verschrobenen wollte ich mich nicht abgeben. Viel interessanter erschien mir dagegen eine gigantische, schmiedeeiserne Tür, die sich in einiger Entfernung auf dem Weg aufbaute und diesen auch für viele andere versperrte.
Angekommen sagte man mir, ich müsse klopfen, und würde ich das daraufhin ausgesprochene Rätsel lösen, so wäre mir der Eintritt sicher. Also hieb ich ein auf die Pforte, das Rätsel zu erlangen, und heraus trat ein Wesen, völlig in schwarzes Braun gemantelt, sah mich, so dachte ich jedenfalls, an, und sprach behäbig mit einem durchaus lustigen Akzent:
„Sei dir gesagt: Der Barbier
rasiert genau die Männer hier,
die lieber faulen, dösen, ruhn,
nicht willens sind, dies selbst zu tun.
Diesen kühlen, scharfen Schaber
zum Scheren meiner Haare aber
bediene ich nie selbst an mir.
Wieso bin ich der Barbier?“
Die Umstehenden, schon spannend gelauscht habend, welche Nuss dem Neuen vorgeworfen würde, stöhnten auf und hielten sich vor Schmerz die Zähne.
„Wie soll dies angehen?“, war zu hören. „Rasiert er sich selbst, so ist er zu faul dazu.“
„Ist er dies aber“, schrie ein anderer, „so rasiert er sich im Auftrag seines Amtes!“
Ein Dritter taumelte vorbei, meinte „Er rasiert sich doch stets, auch wenn er dies nicht tut“, und sprang von der Klippe.
Ich nun trat an die Kapuze heran, ganz nah, zum eigenen Glück näher als nötig, und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist natürlich weiblich, meine Hübsche, und – wenn ich dies hinzufügen darf – liebend gern würde ich mit dir ein Stück des Weges gehen.“
Daraufhin reichte sie mir die Hand und gewährte mir unter den ungläubigen Blicken all jener Gescheiterten Einlass in das Land jenseits des Tores. Dort auch nahm sie ihre Kutte ab und zeigte mir ihr – genau hierauf hatte ich spekuliert – liebreizendes Gesicht, tat einen Knicks und stellte sich vor: „Mein Name ist..“
„..Lambda“, vervollständigte ich ihren Satz, ohne zu wissen, woher mir dies bekannt war. Ihr schien dies nur natürlich zu sein und lächelnd liefen wir nebeneinander her, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Bis ein Schrei aus ihrer Kehle drang: „Da!“
„Wo?“
„Eine Katze Gruppen, in Deckung!“
Laut lachte ich auf, ihre Panik nicht verstehend, und bückte mich, ein Fellknäuel an mich zu nehmen. „Was bist du für eine Frau, Angst vor Katzen zu haben?“
Meine Freundin hatte sich von mir entfernt und rief mir zu: „Nein, du Idiot! Das sind Gruppen, gemeingefährliche Gruppen!“ Und schon biss mich solch ein Vieh in den Zeh. Dies tat weh, wirklich weh, und so schnell wie noch nie rannte ich hinaus aus diesem Gebiet, welches schleunigst abgeschlossen werden sollte. Was war das nur für eine Welt, durch die sie mich führte?
Genau das wollte ich sie fragen, doch ehe ich mich versah, hatte sie schon die Arme um mich geschlungen und presste sich fest an mich. „Dieser Ort ist gefährlich, du hättest sterben können!“ Ich hatte diese Bemerkung schon mit einem Scherz abtun wollen, merkte aber, dass sie es ernst meinte. Sie blieb nicht nur bei mir, weil sie mich mochte, sondern auch, weil sie Angst hatte – um mich.
Vielleicht aber auch nicht, denn schon hatte sie sich wieder von mir gelöst und kam nicht umhin, mich zu tadeln. „Weißt du denn nicht, dass Gruppen nur wegen ihrer Kleinheit so süß aussehen, im Grunde ihres Herzens jedoch böse sind?“
„Nein, woher auch? Bei mir zu hause werden diese Tiere Katzen genannt und sind verschmust und meistens zutraulich.“
Da musste sie lachen. „Eine Katze ist doch eine Ansammlung von Gegenständen.“ Sie kramte in ihrer Tasche und holte ein paar Steinchen heraus. „Hier, das zum Beispiel ist eine Katze Steine. Und sag mir nicht, dass in deiner Welt ein Stein etwa Maus heißt. Das wäre lächerlich.“
Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und ihr lieber einen Kuss zu geben. Nach bestandenen Gefahren sollte dieser süßer schmecken als zu anderen Zeiten. Unsere Lippen berührten sich, ich spürte ihre zarten, warmen Lippen, zog sie an mich, vergrub meine Hände in ihren Haaren, stöhnte auf, machte mich an ihrem Oberteil zu schaffen und merkte schließlich, wie sie alles nur stumm über sich ergehen ließ und still in die Ferne starrte. Besorgt ließ ich sie los.
„Lambda, was fehlt dir?“
Als sie antwortete, war ihre Stimme leer. „Weißt du eigentlich, wo du bist?“
„Ich.. In deiner Nähe, mehr zählt nicht.“
Sie schaute mich traurig an, schüttelte den Kopf. „Diese Ort ist nicht real. Er entstand aus Gedanken, die deine Welt ungenügend fanden, und ist nun ein Sammelplatz für alle, die dort keinen Platz mehr finden.“
Ich konnte nicht verstehen, was sie mir sagte, sah ich sie doch plastisch vor mir. „Du aber existierst doch, Lambda?“
„Ich? Ich kenne mich selbst nicht! Das hier“, sie zeigte an sich hinab, „ist ein Abbild derer, die du drüben geliebt hast. Ich bin bloß dein Halt für den Übergang.“
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. „Träume ich?“
Sie schaute mich an – und grinste schelmisch. „Nein, diesmal lautet die Lösung: ich habe dir einen Streich gespielt!“ Als wäre nichts gewesen, nahm sie mich an der Hand und zog mich vorwärts. „Komm, der koerzive Raum erwartet uns.“
Diese Frau zu verstehen gestaltete sich beinahe so schwierig wie ihr seltsames Vokabular, und schon wollte ich nachfragen, als sie meinen Blick richtig deutete.
„Du würdest es nicht verstehen, erklärte ich es dir. Schau ihn dir einfach an, er beginnt hinter dem nächsten Hügel.“
Ihr Raum war sicherlich kein schlichtes Zimmer, darum setzte ich einiges auf dieses Konstrukt, das hinter dieser sandigen Schräge, auf der kleine Kugeln saßen und eifrig Kreise malten, auf mich warten sollte. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Eine Stadt, gebaut aus Stein, Stahl, Kohle und allem, was sonst noch zur Verfügung gestanden haben musste, ergoss sich zu meinen Füßen hinaus zum Horizont, erfüllte mein gesamtes Blickfeld mit schlichten Reihenhäusern, vereinzelten Einkaufszentren, gigantischen Wolkenkratzern, mehrspurigen Autobahnen und kleinen Schrebergärten. Eine Stadt ohne Grenzen abseits dieses Berges, eine Stadt, die bis in die Unendlichkeit reichte, eine Stadt, die wahrhaft eine solche war.
Ohne meinen Blick abzuwenden richtete ich das Wort an Lambda: „Das verstehst du also unter einem Raum?“
Ich hörte sie förmlich grinsen. „Davon bist du schon beeindruckt? Es gibt noch viel mehr Räume, das ist bloß der koerzive.“
„Und was erwartet mich da?“ Ich sah sie an, und wieder war da dieser starre Blick, der die Ferne taxierte.
„Es wird dir gefallen.“ Lambda sprach leise, und es schien, als unterdrückte sie Tränen. „Ganz sicher wird es dir gefallen. Komm.“
Ich blieb stehen. Offensichtlich gefiel ihr der Gedanke nicht, den Raum zu betreten. Diese Angelegenheit musste geklärt werden. „Was wird geschehen, Lambda? Antworte mir.“
Flehend blickte sie mich an. „Stell bitte keine Fragen. Ich bin mir sicher, du wirst deinen Spaß haben. Spaß, ganz viel Spaß, ganz sicher.“ Nun liefen ihr doch die Tränen über ihre wunderschönen Wangen. „Ich bin doch dafür da, dich glücklich zu machen.“
Ich zog sie an mich heran und hielt sie ganz fest. Wir standen einfach nur da und langsam beruhigte sie sich. Als ihr leises Schluchzen verklangen war, flüsterte ich ihr ins Ohr: „Ich liebe dich. Und ich verspreche dir, dass nichts uns Trennen wird. Alles wird gut.“
Mit großen, geröteten Augen sah sie mich an und nickte. Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Dann rannte sie ohne ein weiteres Wort den Hang hinunter und ich ihr hinterher, obwohl ich mich vor dem unvermeidlichen Trubel, der dort herrschen musste, ängstigte. Überall Menschen in Eile und Hast, widerwärtige Gerüche an jeder Ecke und kleine Kinder, die plärren. Sicherlich auch einige Gruppen.
Um so mehr war ich überrascht, als wir mitten im Raum standen und ich die anderen begutachtete, die zu sehen waren. Frauen, Männer, Kinder, allesamt in Grau gekleidet, standen lediglich da, sprachen nicht, gingen nicht, atmeten nicht – und hielten sich kleine Geräte ans Ohr. Ihre Augen waren erloschen, ihre Haut fahl, ihr Haar schütter und stumpf. Und überall dieses kleine Gerät.
„Was ist hier los?“, fragte ich, nun endlich eine Antwort erhoffend. „Wieso sind all diese Leute so freudlos erstarrt?“
Lambda stand etwas abseits von mir und setzte einem jungen Mann den Hut auf, der vom Wind herunter geweht worden war. „Ganz im Gegenteil: Sie haben den Spaß ihres Lebens, nur sieht man es ihnen nicht an. Sie sind schlicht zu beschäftigt.“ Dann gab sie dem Mann einen langen Kuss auf den Mund, und schon wollte ich eifersüchtig einschreiten, da sprach sie weiter: „Haben sie einmal begonnen, so vergessen sie alles, was ihnen einst wichtig gewesen ist.“
Ich hatte das Gefühl, Lambda in den Arm nehmen zu müssen, doch sie schüttelte mich unwirsch ab.
„Diese kleinen Geräte sind die Körper.“ Sie hielt kurz inne und ließ das Wort in der Stille des Raumes nachhallen. „Sie senden Punkt für Punkt eine völlig leere, grenzenlose Welt in deinen Kopf, erst kleine Strecken zum Eingewöhnen, dann Kreise und später Kugeln gigantischen Durchmessers. Und dann ist es an dir.“ Sie redete jetzt nicht mehr zu mir, blickte wieder in die Ferne. „Meine Aufgabe ist es, Suchende wie dich zu geleiten.“
„Ich hab diesen Ort niemals gesucht, Lambda! Diese Körper interessieren mich nicht, lass uns einfach wieder gehen.“
Wieder diese verzweifelte Lächeln, als sie an mich heran trat und mir einen Körper in die Hand drückte. „Sobald du es am eigenen Leib erfahren hast, wirst du sie gesucht haben, es ist schon immer so gewesen.“
Ich betrachtete den Körper genauer, der solche Macht besitzen sollte. Er sah aus wie ein kleines Funkgerät, zum Datenaustausch bestens geeignet, aber aus billigem Plastik. „Wenn ich wieder da bin, gehen wir ein Eis essen.“ Ein letztes Lächeln noch, dann hielt ich ihn an meinen Kopf.
Sofort verklangen alle Empfindungen, die mein eigener Körper lieferte, und nur noch die neue, reine Schwärze blieb.
Dann leuchtete ein klitzekleiner Lichtpunkt auf, in grellem Weiß, und als ich dachte, er solle doch bitte braun werden, so wurde es dies. Gleich darauf zeigten sich zwei neue, und auch diese färbte ich durch einen einfach Gedanken in sattes Braun. Nun leuchteten in schneller Reihenfolge weitere Punkte auf, die sich auf einem Kreis anordneten, und ich ließ sie wachsen, in Höhe und Breite, bis ich einen Klecks Kaffee vor mir sah, der kurz darauf von einer eigens erstellten Tasse umgeben war.
Dann sah ich den Kaffee vibrieren, stärker und stärker, bis die Tasse zersprang.
Ich öffnete die Augen, sah hinauf in den blauen Himmel und holte tief Luft. Lambda hatte mich zurück geholt. „Sag mir: Was war das?“
Lambdas Gesicht schob sich über mich. „Stell es dir vor wie eine umgekehrte Karte: Der Körper liefert dir ein unbegrenztes Stück Papier und alles, was du denkst, wird an dieser Stelle entstehen.“
Hätte ich es nicht kurz zuvor selbst erlebt, hätte ich kein Wort geglaubt. So aber wollte ich mich davon überzeugen, dass mir wirklich keine Grenzen gesetzt waren und hielt den Körper an meine Schläfe.
Alles war wieder schwarz, der Kaffee verschwunden, also fing ich von vorne an. Die Tasse gelang mir schnell, also nächstes erzeugte ich einen Tisch. Größeres schwebte mir vor, also baute ich dem Tisch ein eigenes Haus und ringsherum erschuf ich einen wunderschönen Park samt Getier und wanderndem Pärchen.
Und dann traf mich aus heiterem Himmel der Schlag und keuchend lag auf dem Boden, Lambda schreiend über mir. „Was denkst du dir eigentlich, du riesiger Idiot! Wir sind im koerziven Raum!“
Ich lächelte sie an. „Was regst du dich denn auf, es ist doch alles in Ordnung.“
Sie schaute mich an, als hätte ich einen wirklich schlechten Witz gerissen und gab mir eine Ohrfeige. „Du verstehst es nicht, oder? Wenn du einmal anfängst, wirst du gezwungen, weiter zu machen. Immer weiter, und weiter, und weiter. Es ist eine Sucht. Man will Neues erschaffen, Schöneres, die Unendlichkeit erreichen.“
Nun flossen wieder ihre Tränen, also versuchte ich mit sanften Worten zu ihr vorzudringen. „Lambda.. Glaube mir.. Der Körper ist nicht böse. Er macht mich glücklich. Schau, ich erschaffe auch dir eine Welt!“ Dann hielt ich ihn wieder  an meinen Kopf.
Wieder diese Schwärze, die mein bisheriges Werk verschlungen hatte, doch macht ich mich unverdrossen an die Arbeit, und kurze Zeit später breitete sich eine strahlend grüne Wiese vor mir aus, überfüllt von Gänseblümchen, Schmetterlingen und Sonnenlicht. Am Rand gähnte noch Leere, doch diese sollte bald mit einer hübschen Holzhütte für mich und auch Lambda gefüllt werden.
Froh machte ich mich ans Werk, als die Erde unter mir begann zu beben und sich entzwei spaltete. Ich versuchte noch, Brücken zu schlagen, doch es war zu spät.
Als ich die Augen öffnete, sah ich Lambda wieder über mir sitzen und schreien. „Ich liebe dich?! Alles wird gut?!“ Sie prügelte flennend auf mich ein.
Alles was mir dazu einfiel, war: „Du hast meine Wiese zerstört, Lambda. Bitte lass mich gehen, sie wieder aufbauen.“
Sie riss die Augen auf. „Sei nicht so ein verdammter Idiot! Komm zu dir!“
Ich stieß sie von mir und hielt ihr den Mund zu, sodass sie nicht weiter schreien konnte. „Lambda“, knurrte ich, „ich habe mich entschieden. Versuche nicht weiter, mich aufzuhalten.“
Unter Schmerzen verzerrte sie das Gesicht, doch sie hatte verstanden und nickte. Ich ließ sie los und sie rückte von mir weg.
„Eines möchte ich zuvor jedoch noch wissen: Wieso bin ich hier?“
Lambda setzte sich auf und unterdrückte ihre Tränen so gut es ging. „Du hast es nicht herausgefunden?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Drüben, in deiner Welt, hattest du einen schweren Unfall und seitdem kann dein Geist nicht mehr über deinen eigenen Körper verfügen. Daher hat er sich hierher gerettet, wie all die anderen auch.“
Zufrieden nickte ich, wissend, dass doch alles einen Sinn hatte und ich genügend Beschäftigung für die Unendlichkeit besaß.
„Es war wirklich eine schöne Zeit mit dir. Danke, dass du bei mir warst, Lambda.“ Dann machte ich es mir auf einer Bank gemütlich, warf ihr noch einen letzten Blick zu, der ihre Trauer lindern sollte, und dann tauchte ich ein in die Welt des Körpers.

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